Scheinselbstständigkeit

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PDF-Broschüre zum Thema Scheinselbstständigkeit
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Der Stand der PDF-Broschüre ist: 22.4.2024

Zu wenigen Themen sind unter Selbstständigen so viele falsche Gerüchte so hartnäckig in Umlauf wie zum Thema Scheinselbstständigkeit. Um nur die Wichtigsten vorab auszuräumen, sei zunächst festgestellt:

  • Die Zahl der Auftraggeber spielt keine allein entscheidende Rolle. Jemand kann mit nur einem Auftraggeber trotzdem selbstständig sein – und mit fünf Auftraggebern trotzdem bei einem oder allen scheinselbstständig. Wer allerdings auf Dauer nur einen einzigen Auftraggeber hat, sollte beachten: Da kann eine Rentenversicherungspflicht als "arbeitnehmerähnlich Selbstständige" entstehen.
  • Scheinselbstständig ist immer nur das Auftragsverhältnis, niemals die ganze Person: Wenn einer meiner Verträge als scheinselbstständig eingestuft wird, kann ich trotzdem für meine anderen Kunden als Selbstständiger weiterarbeiten – und umgekehrt.
  • Schwierigkeiten bekommt der Auftraggeber, wenn ein Vertrag als scheinselbstständig eingestuft wird – nicht die Auftragnehmerin.
  • Statusfragen sind kein Wunschkonzert. Die Prüfung, ob jemand zu Recht als Selbstständiger beschäftigt wird, soll – wie auch das Bundessozialgericht stets betont – das System der sozialen Sicherung als Ganzes schützen und damit den zentralen Bestandteil des Sozialstaatsversprechens.
    • Einerseits soll die Statusprüfung verhindern, dass Arbeitgeber die Sozialversicherung um Beiträge prellen sowie Beschäftigten arbeitsrechtlichen Schutz und Mindestvergütungen vorenthalten.
    • Andererseits sollen sich Arbeitnehmerinnen nicht einfach aus dem Sozialsystem verabschieden dürfen. Daher reicht es nicht, wenn sie einfach Honorar- statt Arbeitsverträge abschließen. Wäre das so, könnte das heutige Sozialversicherungssystem einpacken. – Insbesondere das aktuelle System der Altersvorsorge funktioniert nur, weil alle abhängig Beschäftigten Mitglied sein müssen.

Es geht also im Kern um den Schutz von Arbeitenden und darum, dass sich (vermeintliche) Auftraggeber und (gefühlte) Selbstständige, immer dann am allgemeinen gesetzlichen Rentensystem des Sozialstaates beteiligen müssen, wenn die Zusammenarbeit so läuft, wie sie im pflichtversicherten Arbeitsverhältnis üblich ist: Der Arbeitgeber erteilt konkrete Weisungen, bestimmt etwa, wann und wo eine Arbeit zu erledigen ist und er legt fest, wie die Arbeitskräfte zusammenarbeiten. Ist das der Fall, sind – unabhängig davon, was im Vertrag steht – "Freie", "Pauschalistinnen", "externe Experten" und "Honorarkräfte" sozialrechtlich (und oft auch arbeitsrechtlich) nicht als selbstständige Unternehmen unterwegs, sondern scheinselbstständig
Was Viele nicht verstehen oder wahrhaben wollen: Das Sozialrecht, das Bundessozialgericht (BSG) und auch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) haben überhaupt nichts gegen eine echte unternehmerische Selbstständigkeit. Aber sehr wohl wollen und müssen sie verhindern, dass abhängige Tätigkeiten als Selbstständigkeit ausgegeben werden. Weil das immer trickreicher und selbstverständlicher geschieht, hat die Rechtsprechung in den letzten Jahren insbesondere beim Kriterium des zu tragenden unternehmerischen Risikos nachgeschärft. Diese notwendige Entwicklung hat sich noch nicht überall herumgesprochen, entsprechend kursieren viele alternative Fakten, Unterstellungen und grottenfalsche juristische Behauptungen zur Scheinselbstständigkeit im Internet. Leider tun sich hier nicht nur Einzelne oder Lobbyverbände der Personalwirtschaft hervor, sondern zum Teil auch Berufsverbände, die nicht wahrhaben wollen: Besteht in einem längeren Dienstverhältnis keine reale Chance, die Vergütung und Arbeitsumstände zu beeinflussen und fehlt zudem die Chance (oder das Risiko), dass hierbei auch erfolgsabhängige Komponenten einfließen, ist der Unterschied zur echten Unternehmerin weit größer als zum abhängig Beschäftigten.

Dass eine faktisch abhängige Tätigkeit als Selbstständigkeit ausgegeben wird, gibt es in vielen Branchen und Berufen: "Freie" Journalistinnen, "selbstständige" Lkw-Fahrer, "selbstständige" Propagandistinnen im Einzelhandel, IT-Kräfte, die "selbstständig" und zugleich (zeitlich befristet) in einen Betrieb eingebunden arbeiten wollen. Ein Problem ist: Es fehlen transparente Kriterien für die mindestens näherungsweise Beurteilung des Status. Der Gesetzgeber kneift seit Jahrzehnten, hier Auftragnehmenden wie Auftraggebern bei der Beurteilung zu helfen oder Anhaltspunkte für eine Beweislastumkehr zu definieren. Er verlässt sich da lieber auf die Justiz, also die Einzelfallentscheidungen der Gerichte. Diese sollen stattdessen dafür sorgen, dass die Freiheiten der Selbstständigkeit auch zur Geltung kommen.  
Gut zu tun haben die Gerichte hier insbesondere im Baugewerbe. Dort haben sich neben legalen und legitimen Formen der handwerklichen Selbstständigkeit auch kriminelle Strukturen breitgemacht, die gezielt Notlagen insbesondere von Geflüchteten und Wanderarbeiterinnen ausnutzen und allein dem Lohn- und Sozialdumping sowie der Steuerhinterziehung dienen. Über ganze Subunternehmensketten, an deren Ende regelmäßig auch Schwarzarbeit steht, wird verschleiert, dass vorgeblich Solo-Selbstständige weisungsgebundene, abhängige Arbeit mit Mini-Vergütungen leisten. Wenn dann auch noch in Verträgen steht, beide Seiten wollten bewusst kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis begründen, ist das – wie das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 2023 in einem Urteil (Az. L 3 BA 6/19) anmerkte – lediglich ein "Etikettenschwindel zur Verschleierung des abhängigen Beschäftigungsverhältnisses"

Theoretisch und oft auch in der Praxis ist es einfach zu entscheiden, ob es sich tatsächlich um eine Selbstständigkeit handelt oder der Status nur zum Schein vereinbart wurde: Zählt für das Honorar allein ein Arbeitsergebnis und nicht die reine Anwesenheit, wird der Auftrag mit eigenem Arbeitsgerät und echtem unternehmerischen Risiko ausgeführt, arbeitet die Selbstständige zudem wo und wann sie will und darf sie die Arbeit bei Bedarf auch an andere delegieren, spricht erst einmal gar nichts dafür, dass hier der Status anzuzweifeln oder zu klären wäre. Lassen hingegen entscheidende Kriterien eine abhängige Tätigkeit vermuten, muss in jedem Einzelfall in einer Gesamtschau betrachtet werden, was sozial- und arbeitsrechtlich für und gegen den einen oder den anderen Status spricht. In manchen Fällen schafft da erst ein Urteil eines (obersten) Gerichts Klarheit, weil sich der Gesetzgeber bislang nicht durchringen konnte, klare Kriterien zu den Statusfragen festzulegen.
Angebliche Schlupflöcher und Grauzonen kann im Zweifel allerdings die Rechtsprechung flexibler und mutiger schließen als der Gesetzgeber. Beispielsweise hat das Bundessozialgericht (BSG) in 2023 den beliebten Rat abgeräumt, das Risiko der Scheinselbständigkeit sei durch die Gründungen von Kapitalgesellschaften durch die Beschäftigten zu schließen: Am 20.7.2023 entschied das BSG in drei Fällen, in denen formal Kapitalgesellschaften (GmbHs und UGs) beauftragt wurden, dass es auch in solchen Konstruktionen darauf ankommt, wer wie beschäftigt wird, es zählt also weiterhin das Gesamtbild der Tätigkeit. Wenn nun allein Geschäftsführer-Gesellschafterinnen die Aufträge an die von ihnen beherrschten Firmen abarbeiten, können sie als natürliche Personen scheinselbstständig sein, ohne selbst Auftragnehmerin zu sein. – Die konkreten Urteile sind über die BSG-Pressemitteilung vom 20.7.23 leicht zu finden.   

Die aktuelle Prüfpraxis

Weil auch eine generelle Regel nicht funktioniert, wenn sie nicht kontrolliert und durchgesetzt wird, prüft die Deutsche Rentenversicherung (DRV) unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung regelmäßig, ob Betriebe Scheinselbstständige beschäftigen und klärt weitere Zweifelsfälle im Statusfeststellungsverfahren. Wie jede Prüfung ist auch die der DRV nicht immer einfach und wenig beliebt. Nicht zuletzt, weil auch sie darunter zu leiden hat, dass aktuell kein eindeutiger Kriterienkatalog bestimmt, wann eine Ausbeutung Scheinselbstständiger und der Sozialkassen vorliegt. Die DRV selbst erläutert die fünf größten Irrtümer (respektive Vorurteile) die daher immer wieder kolportiert werden:
• Irrtum 1: Die Clearingstelle prüft nicht unabhängig.
• Irrtum 2: In den meisten Fällen wird eine abhängige Beschäftigung festgestellt.
• Irrtum 3: Gleichartige Fälle werden unterschiedlich entschieden.
• Irrtum 4: Die Prüfkriterien sind für die Statusbeurteilung moderner agiler Arbeitsformen ungeeignet und insgesamt zu streng.
• Irrtum 5: Das Statusverfahren ist intransparent und bringt keine schnelle Rechtssicherheit.

Eigentlich wollte die nach der Bundestagswahl 2017 gebildete große Koalition das Verfahren ändern und hatte im Koalitionsvertrag festgelegt: "Das Statusfeststellungsverfahren wollen wir vereinfachen und zwischen den unterschiedlichen Zweigen der Sozialversicherung widerspruchsfrei ausgestalten". – Ein Plan, der am einfachsten mit einem Kriterienkatalog umzusetzen gewesen wäre, der (wie früher im Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit) im Sozialgesetzbuch verankert wird. Stattdessen wurden Mitte 2021 marginale Änderungen beschlossen, die am 1.4.2022 in Kraft traten. Im Wesentlichen muss die DRV im Statusverfahren nicht mehr klären, ob eine Sozialversicherungspflicht vorliegt, sie kann auch – was rechtstechnisch wesentlich unkomplizierter ist – lediglich feststellen, ob eine selbstständige Tätigkeit vorliegt und das auch schon bevor die Tätigkeit aufgenommen wurde. 
Die eigentliche Herausforderung bleibt, die Handvoll tauglicher Kernkriterien zu definieren, deren Häufung tatsächlich auf eine typische Selbstständigkeit oder Anstellung schließen lässt. – Der Idee beispielsweise, die Höhe der Stundenvergütung als ein solch starkes Kriterium zu verankern (wie dies hier und da gutverdienende Fachkräfte fordern), hat das Bundessozialgericht bereits mehrfach eine klare Absage erteilt.

Details zur Prüfpraxis finden sich im GKV-Rundschreiben zur Statusfeststellung vom April 2022 (hier mit Anlagen als ZIP-Datei), die DRV nennt aber auch in ihrer Broschüre "Versicherung 2024", deren Kapitel 5 sich ausführlich mit der Selbstständigkeit befasst, die Haupt-Kriterien, die sie bei ihrer Gesamtbetrachtung zugrunde legt:

  • Weisungsgebundenheit (kann sich bei Hochqualifizierten und Spezialisten in einer funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess ausdrücken).
  • Eingliederung in den Betrieb.
  • Keine Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft, die Fremdbestimmtheit der Tätigkeit kennzeichnet das Beschäftigungsverhältnis.
  • Keine eigene Betriebsstätte.
  • Keine im Wesentlichen frei gestaltete Arbeitstätigkeit.
  • Keine Tragung des Unternehmerrisikos. Ein Unternehmerrisiko trägt, wer eigenes Kapital oder eigene Arbeitskraft mit der Gefahr des Verlusts einsetzt.
  • Wirtschaftliche Abhängigkeit.
  • Vereinbarung, Lohnabzüge vornehmen zu lassen.
  • Vereinbarung von Urlaub.
  • Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Zu den Abgrenzungsfragen und die Statusfeststellung von Erwerbstätigen haben die Träger der Sozialversicherung gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit erstmalig in 2010 ihr bereits erwähntes Rundschreiben zur Statusfeststellung mit sechs Anlagen herausgegeben. Die aktuellste Fassung gilt seit dem 1. April 2022. Die Anlagen (ab Seite 37), die sogenannten Abgrenzungskataloge, treffen zusätzlich zu den generellen Feststellungen spezifische Aussagen für einzelne Berufsgruppen und Sonderthemen. Diese Anlagen werden alle paar Jahre aktualisiert. Sie drehen sich – wie hier nummeriert – um die Themen: (1) Theater, Orchester, Rundfunk, Film und Fernsehen | (2) Handelsvertretung | (3) GmbH-Geschäftsführung | (4) mitarbeitende Angehörige | (5) bestimmte Berufsgruppen. Die zusätzliche Anlage 6 beschäftigt sich mit Details zum Statusfeststellungsantrag für GmbH-Geschäftsführungen.
Diese Abgrenzungskataloge sind auch für die Rechtsprechung als Leitlinie bedeutend, haben aber keinen Gesetzesrang. Sie geben erst einmal nur die Haltung beziehungsweise den Erkenntnisstand der Sozialversicherungsträger wieder. Sie sind daher lediglich Beurteilungshilfen, an die Gerichte "bei der Gesamtwürdigung im Einzelfall aber nicht gebunden sind", wie das Bundessozialgericht 2013 feststellte (Az. B 12 R 13/10 R, Randziffer 20) und 2018 bekräftigte (Az. B 12 KR 3/17 R, Randziffer 14).
Ebenfalls stellen die Besprechungsergebnisse der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung erst einmal nur deren gemeinsame Haltung dar. Die internen Absprachen zeigen jedoch für viele Fragen – auch zum Beschäftigungsstatus – deutlich, wie sie von den Sozialversicherungsträgern und auch von der aktuellen Rechtsprechung beurteilt werden. Als Beispiel dokumentieren wir einmal aus der Sitzung des GKV-Spitzenverbandes mit der DRV und der Arbeitsagentur vom 4. Mai 2023 den Protokoll-Teil "Versicherungsrechtliche Beurteilung von Lehrern und Dozenten".