Klare Kriterien könnten den Status klären

Streit gibt es um die Scheinselbstständigkeit vor allem deshalb, weil auch nach der Reform des Statusfeststellungsverfahrens zum 1.4.2022 weiterhin immer der Einzelfall entschieden werden muss. Immer dann, wenn viele verschiedene Umstände und Indizien gegeneinander abgewogen werden müssen, führt das zur Rechtsunsicherheit – und mündet oft in langwierige Gerichtsverfahren. Ohne eine gewisse Typisierung ist es eben kaum möglich, im Voraus zu beurteilen, ob ein Dienstvertrag tatsächlich ein Arbeitsvertrag ist. Diese Typisierung überlässt die Politik bislang letztlich den Gerichten, ein konkreter gesetzlicher Kriterienkatalog inklusive einer Beweislastumkehr und zudem unabhängig vom Erwerbsstatus strukturell gleiche Bedingungen bei der Sozialversicherung würden die Verfahren verkürzen und die Zahl der Fälle, die überhaupt noch zu klären sind, stark verringern.

Die Praxisschwierigkeiten, zu einer verlässlichen Vorab-Prognose über den Beschäftigungsstatus zu kommen, zeigen: Nur über einen wirksamen Katalog von Kriterien – egal ob positiv oder negativ formuliert – wird es möglich sein, Selbstständigkeit bei einer Dauerbeschäftigung rechtssicher zu definieren und auszuüben. Alle politischen Versuche der Opposition, Kriterien zur Statusfeststellung (wieder) gesetzlich zu verankern, sind bislang ebenso gescheitert wie der Versuch des Arbeitsministeriums aus dem Jahr 2015 wieder einen gesetzlichen Kriterienkatalog zu gestalten. Immerhin verspricht der Ampel-Koalitionsvertrag aus 2021: "Nach der aktuellen Reform des Statusfeststellungverfahrens führen wir im Lichte der Erfahrungen einen Dialog mit Selbständigen und ihren Verbänden, um dieses zu beschleunigen und zu verbessern. Ziel ist, in der digitalen und agilen Arbeitswelt unbürokratisch Rechtssicherheit zu schaffen." Zugleich darf das als Drohung verstanden werden, dass Sonderregeln angedacht werden, die es gut verdienenden Fachkräften und ihren Auftraggebern leichter machen, sich der Statusprüfung und damit den Beiträgen zu einer allgemeinen Altersvorsorge zu entziehen. – Daher sehen Viele, die die Statusfeststellung seriös diskutieren, auch eine einheitliche Rentenversicherung für alle Status als entscheidender Hebel. Sie erleichtert nicht nur den Übergang zwischen verschiedenen Arbeitsformen sondern führt automatisch mindestens zu wesentlichen Erleichterungen beim sozialrechtlichen Statusverfahren. Die Vermutung, es ginge bei der Selbstständigkeit auch oder ausschließlich darum, Vorsorgekosten zu sparen, könnte ad acta gelegt werden.

Die Ironie der Geschichte ist, dass ausgerechnet jene, die oft und gerne eine Rechtsunsicherheit beim Statusfeststellungsverfahren beklagen, jegliche Initiative bekämpfen, zu einem Set verlässlicher aber eben auch sozialstaatlich verträglicher und gerechter Lösungen zu kommen, die diese Sicherheit schaffen. Eine sinnvolle und nachvollziehbare Abgrenzung von abhängiger und selbstständiger Arbeit kommt also auch deshalb nicht voran, weil einige Wirtschaftsverbände und Parteien en passant Partikularinteressen bedienen wollen.
Insbesondere in Branchen, in denen Spezialistinnen gesucht und teuer bezahlt werden, ist die Lust, allgemeine Regeln zu schaffen und sich (auch im langfristigen Interesse der Betroffenen) für eine universelle Alterssicherung einzusetzen, überschaubar. Dort aktive Lobbyverbände, die gerne auch egoistische Impulse aufgreifen, fordern beispielsweise, dass sich Selbstständige ab einem gewissen Einkommen nicht mehr am Sozialsystem beteiligen müssen. Sie haben nicht verstanden, dass es nicht allein um die individuelle Absicherung geht, sondern ein Sozialstaat nur funktionieren kann, wenn er – auch in der Arbeits- und Sozialordnung – ansatzweise gleiche Grundbedingungen und Beteiligungen für alle Erwerbstätigen schafft. Das verträgt sich überhaupt nicht mit Sonderregeln für einzelne Berufe oder Branchen. – Genau das meinte das Bundessozialgericht übrigens, als es im Juni 2019 (im Urteil zu vermeintlich selbstständigen Honorarärzten) wiederholt klarstellte: Auch ein Mangel an Fachkräften erlaubt es nicht, sozialstaatliche Regeln außer Kraft zu setzen, nur „um eine Steigerung der Attraktivität des Berufs durch eine von Sozialversicherungsbeiträgen ‚entlastete‘ und deshalb höhere Entlohnung zu ermöglichen“.

Der historische Versuch Ende der 90er Jahre

Zwischen 1999 und 2003 hatte der Gesetzgeber schon einmal versucht, Kriterien zur Statusentscheidung einzuführen. Die Rechtsunsicherheit bei der Frage, ob jemand scheinselbstständig sei, sollte gedämpft werden, typische Kriterien sollten die Entscheidung erleichtern. Das Gesetz war leider schlecht gemacht (dazu gleich mehr), enthielt aber die zwei wesentlichen Elemente, ohne die eine Erleichterung der Prozedur nicht denkbar ist: Es wurde eine "widerlegliche Vermutung" eingeführt, also eine Beweislastumkehr in Verbindung mit einem Kriterienkatalog. Ob solch ein Katalog aus Positiv- oder oder wie hier aus Negativkriterien besteht, ist sachlich egal, entscheidend ist, dass damit klare Abgrenzungen zwischen abhängiger und selbstständiger Arbeit möglich werden. Der (bereits zweite) Definitionsversuch von Rot-Grün, der bis Ende 2002 galt, lautete im § 7 SGB IV Beschäftigung wie folgt:

 (4) Bei einer erwerbsmäßig tätigen Person (...) wird vermutet, dass sie beschäftigt ist, wenn mindestens drei der folgenden fünf Merkmale vorliegen:

  1. Die Person beschäftigt im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, dessen Arbeitsentgelt aus diesem Beschäftigungsverhältnis regelmäßig im Monat 325 € [damalige Minijob-Grenze, d.A.] übersteigt;
  2. sie ist auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig;
  3. ihr Auftraggeber oder ein vergleichbarer Auftraggeber lässt entsprechende Tätigkeiten regelmäßig durch von ihm beschäftigte Arbeitnehmer verrichten;
  4. ihre Tätigkeit lässt typische Merkmale unternehmerischen Handelns nicht erkennen;
  5. ihre Tätigkeit entspricht dem äußeren Erscheinungsbild nach der Tätigkeit, die sie für denselben Auftraggeber zuvor auf Grund eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hatte.

Abgesehen davon, dass dieser Kriterienkatalog (insbesondere auf Druck der Zeitungsverleger) nur kurz in Kraft war, hatte er in dieser Form nach Einschätzung des profilierten Arbeitsrechtlers Hensche keine Wirkung. "Die Nutzlosigkeit des Scheinselbstständigkeits-Paragraphen ergab sich daraus, dass die Krankenkassen mit dieser Vorschrift nicht arbeiten konnten, da sie die Umstände, die für oder gegen eine Versicherungspflicht sprechen, umfassend ermitteln müssen und sich dabei aus rechtlichen Gründen gar nicht auf die in diesem Paragraphen angeordnete rechtliche 'Vermutung' verlassen dürfen." – Mit anderen Worten: Das Gesetz war handwerklich schlecht gemacht. Insbesondere war die Vermutung zum Beschäftigungsstatus nur dann zulässig, wenn Erwerbstätige der Sozialversicherung keine oder falsche Angaben gemacht hatten. "Solche Fälle von 'Totalverweigerung'" so Hensche, "sind aber extrem selten, so dass der Scheinselbstständigkeits-Paragraph praktisch keinen Anwendungsbereich hatte".

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