Einkommen als Indiz für Selbstständigkeit?

Seit einem Urteil des Bundessozialgerichts aus 2017 taucht vereinzelt das seltsame Argument auf, die Höhe des Einkommens könne ein guter oder gar entscheidender Indikator dafür sein, ob ein Job selbstständig ausgeübt wird. Wäre das so, wäre es konsequent allen Erwerbstätigen mit hohen Einkommen zu erlauben, den Status frei wählen zu dürfen. Weil diese Forderung nicht durchsetzbar scheint, taucht die Position mittlerweile modifiziert auf: Honorare, die bei vergleichbarer Arbeit höher sind als Gehälter, sollen ein entscheidendes Kriterium für die Bestimmung des Erwerbsstatus werden.

Heute ist es so, dass diese Differenz (und zwar schon lange) in der Rechtsprechung als Indiz herangezogen wird: Ist bei Betrachtung aller Umstände einer Tätigkeit nicht klar zu sagen, ob es sich eher um eine selbstständige oder eine angestellte handelt, kann eine deutlich bessere Bezahlung den Ausschlag geben, wenn der Status bestimmt werden soll. – Die Forderung, die Honorar-Gehalts-Differenz zukünftig wesentlich stärker zu gewichten, spielt für die allermeisten Berufe und Branchen keine Rolle: Nur dort, wo Facharbeit Mangelware ist, Erwerbstätige aus anderen Gründen eine starke Marktmacht besitzen oder Abnehmer der Arbeit bereit sind für eine extreme Flexibilität mehr zu zahlen, können Selbstständige langfristig höhere Einkommen erzielen als Angestellte. Das heißt: Es geht beim Thema "Honorarhöhe als zentrales Status-Kriterium" um eine kleine Minderheit aller Selbstständigen und eine minimale Anzahl aller Erwerbstätigen. 

Weil so wenige betroffen sind, scheint es ein Randproblem zu sein, wenn ein Sonderrecht für Minderheiten geschaffen würde. Die Forderung wird aber bedenklich (und verfassungsrechtlich problematisch), weil sie darauf zielt, dass (relativ) besser Verdienende aus dem System der sozialen Sicherung und des Arbeitsschutzes aussteigen dürfen. Selbst dann, wenn sie bei einer konkreten Tätigkeit ansonsten alle Kriterien für einer abhängige Beschäftigungsform erfüllen. – Genau um diese Frage zu verwischen, wird Selbstständigkeit von den interessierten Kreisen gerne als Beruf bezeichnet. Tatsächlich betrachtet das Sozial- und Arbeitsrecht nicht Personen, sondern Formen der Zusammenarbeit und Abhängigkeiten. Und das in jedem Einzelfall. Daher kann jemand locker eine abhängige Beschäftigung mit fünf selbstständigen Jobs ergänzen – und umgekehrt. Niemand also hindert beispielsweise IT-Selbstständige (die sich gerne von "Berufsverbot" verfolgt wähnen, sobald sie für ein Projekt einzustellen sind, wenn sie dort im Betrieb und dessen Hierarchie eingegliedert sind) ihren Beruf auszuüben. Sie können parallel gerne so viel und so lange selbstständig arbeiten wie sie wollen oder können.

Nichts spricht dagegen, die Kriterien für eine Selbstständigkeit klarer gesetzlich zu umreißen und zu verankern (siehe auch hier), aber alles spricht dagegen, mit lediglich einer Stellschraube zu operieren und mit ihr die Fragen zu klären, wer Arbeits- und Mitbestimmungsrechten unterliegt und wer sich am System der gesetzlichen Rentenversicherung beteiligen soll.

Eine Prognose vorweg: Die Bedeutung der Scheinselbstständigkeit wird absehbar stark abnehmen, sobald auch alle Selbstständigen zur Altersvorsorge verpflichtet werden. – Die Beliebtheit des Arguments, über die Einkommenshöhe könne auf eine abhängige oder selbstständige Tätigkeit geschlossen werden, wird trotzdem bleiben. Im Kern geht es vielen eben nicht um Statusfragen, sondern darum, ob sie am allgemeinen gesellschaftlichen Rentensystem beteiligt werden. Die Diskussion um taugliche Kriterienkataloge und Unterscheidungsmerkmale wird daher so lange erhalten bleiben, wie es sich die Gesellschaft leistet, auf ein Vorsorgesystem zu verzichten, in das alle Erwerbstätigen gleichermaßen einzahlen.

Das BSG-"Honorarhöhe"-Urteil im Detail

Tatsächlich hatte das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 31.3.2017 (Az. B 12 R 7/15 R) in einem Einzelfall geklärt, ob hier die (nebenberufliche) Selbstständigkeit als scheinselbstständig zu bewerten sei und auch das Thema "Honorarhöhe" gestreift. Wirtschaftsnahe Verbände und Anwälte hatten aus einer Pressemitteilung des Gerichts (bereits Monate vor Veröffentlichung des Urteils) die dies erwähnt, abgelesen, das BSG habe seine Rechtsprechung geändert. Nach der Veröffentlichung wurde klar, dass das Urteil definitiv nicht aussagt, hohe Honorare böten einen Freifahrtschein aus den etablierten Regeln des Sozialstaates zur Altersvorsorge.

Konkret hatte das BSG wie üblich viele verschiedene Indizien geprüft und abgewogen. Dabei widmete es rund 0,8 Prozent der Urteilsbegründung auch dem Indiz des Einkommens, mithin der Honorarhöhe. Nicht, weil das BSG plötzlich eine herausragende Bedeutung des Einkommens für die Statusfrage erkannt hat, sondern weil das Gericht vom Kläger DRV quasi gezwungen wurde, auch hierzu etwas zu sagen: Die Rentenversicherung hatte das Einkommen als vermeintliches Hilfsargument in ihrer Revisionsbegründung erwähnt. Die DRV schrieb darin, die Vorinstanz habe nicht exakt genug geprüft, ob aus dem Honorar für vier bis sieben Stunden in der Woche "hinreichende Eigenvorsorge (Alter, Krankheit etc.) finanziert werden kann". Woraufhin das BSG am Rande darauf hinwies, dass das Honorar des ohnehin nur nebenberuflich selbstständigen Heilpädagogen im vorliegenden Fall so "deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten" lag, dass damit eine Eigenvorsorge möglich sei und deshalb in diesem konkreten Fall "ein gewichtiges Indiz für eine selbstständige Tätigkeit".

So ein Satz heißt jedoch niemals, ab einem bestimmten Stundensatz solle sich jeder den Status und damit den Grad der Teilhabe an den gesellschaftlichen Vorsorgesystemen selbst aussuchen. Es handelt sich, so das BSG im folgenden Satz, "nur um eines von vielen in der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Indizien". An die Aussagekraft des Unterschieds von Honoraren und Löhnen für eine vergleichbare Tätigkeit dürften "keine überspannten Anforderungen gestellt werden", ermahnt das Gericht die DRV. Genau das Gegenteil lesen nun jene Verbände und Unternehmerverbünde heraus, die seitdem fordern die Einkommenshöhe zum zentralen Punkt einer Statusprüfung zu machen. – Mit verkürzten Argumenten und Scheinplausibilitäten ist allerdings auch deren Mitgliedern nicht wirklich geholfen.

Liest man das Urteil korrekt und im Zusammenhang, sagt es ziemlich das Gegenteil dessen, was mit dem Herausgreifen eines Halbsatzes suggeriert werden soll. Tatsächlich hat das oberste Sozialgericht der DRV mitgeteilt, sie solle mit Honorarhöhe-Argumenten doch mal auf dem Teppich bleiben und ergänzt, hierzu sei eine exakte Tatsachenerhebung im konkreten Fall offensichtlich entbehrlich, weil das nur ein einziges Indiz aber nicht den Status insgesamt klären würde. – Nebenbei bemerkt: Die beliebte Behauptung, das BSG habe 2017 seine Rechtsprechung ergänzt oder verändert, ist schlicht Quatsch. Die Höhe der Vergütung wurde von ihm bereits früher immer dann betrachtet, wenn es zur Statusklärung sinnvoll schien. Und so halten es auch die anderen Sozialgerichte. Interessant (und tatsächlich neu) ist, dass Gerichte nun das BSG-Urteil für die gegenteilige Argumentation heranziehen. So befand das Landessozialgericht Schleswig-Holstein im Beschluss L 5 BA 37/19 B ER vom 2.5.2019 unter anderem zu sehr geringen Stundensätzen, die mit Scheinselbstständigen vereinbart wurden, diese "mögen zwar den allgemeinwirtschaftlichen Umständen von Fitnessstudios geschuldet sein, sprechen jedoch nach der vom Sozialgericht zitierten Entscheidung des BSG vom 31. März 2017 – B 12 R 7/15 R – gleichwohl für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung".

Fehlinterpretationen zum System

Zum Teil mag schlicht fehlender juristischer Sachverstand eine Rolle spielen, der eigentliche Beweggrund für die sozialrechtliche Fehleinschätzung scheint andere Gründe zu haben: Offensichtlich geht es darum, bei einer Scheinselbstständigkeit im oberen Einkommenssegment die Altersvorsorge – wenn überhaupt – außerhalb des allgemeinen gesetzlichen Systems betreiben zu können. Das Thema Scheinselbstständigkeit sei für diese Klientel generell nicht wichtig, wird behauptet, weil diese eine Altersvorsorge auch locker außerhalb betreiben könnten. Das heutige Rentensystem wurde aber mit Bedacht anders konstruiert. Eben nicht als individuelle, sondern als gesellschaftliche Vorsorge, in der auch Umverteilungsmechanismen existieren – etwa durch die Anerkennung von Erziehungszeiten oder die finanzielle Unterstützung bei Erwerbsunfähigkeit. Dieses solidarische System wäre mausetot oder müsste stärker mit Steuergeldern gestützt werden, würden nur noch Geringverdiener zur Finanzierung herangezogen. Solange dies umlagefinanzierte existiert (zu dem Alternativen denkbar sind) gibt es gute Gründe, den Status auch bei hohen Einkommen genauer zu prüfen.

Es geht also um Grundfragen der Rentenpolitik. Letztlich um die Frage, ob eine gesamtgesellschaftliche Erwerbstätigenversicherung mit dem für alle Versicherungen typischen solidarischen Risikoausgleichs angestrebt wird oder ob ein "jeder-seines-Glückes-Schmied"-Leitgedanke bei der Altersvorsorge werden soll. Anders als oft und gerne kolportiert, geht es bei einem Rentensystem nicht allein um den Schutz jener, die zur Vorsorge kein Kapital anhäufen oder Immobilien kaufen können. Auch deshalb ist die Deutsche Rentenversicherung (DRV) verpflichtet und darauf bedacht, Scheinselbstständigkeit und damit ein Ausbluten der Sozialkassen zu verhindern. Seit es die gesetzliche Rente gibt, war die Wahl des Beschäftigungsstatus nie ein Wunschkonzert.  Auch wer hohe Einkommen, Kapital oder Immobilien besitzt durfte sie nicht einfach verlassen. Dass vor Urzeiten eine gesellschaftliche Altersvorsorge gestrickt wurde, die an abhängige Arbeitseinkommen gekoppelt ist und dass alle Sondersysteme und Ausnahmen strukturell bis heute beibehalten wurden, ist der eigentliche Anachronismus des deutschen Wegs. In Europa ist das inzwischen einmalig.

Der Wunsch, im Status Selbstständigkeit zu arbeiten, obwohl die konkrete Tätigkeit viele Kriterien einer abhängigen Beschäftigung erfüllt, entspringt heute vor allem dem Wunsch, wählen zu dürfen ob und wie Altersvorsorge betrieben wird. Während die Altersvorsorgepflicht näher rückt, verschiebt sich die Argumentation der Gegner des Rentensystems: Dass Selbstständige überhaupt nicht mit einer Vorsorgepflicht behelligt werden sollten, tritt langsam in den Hintergrund, betont wird immer öfter, dass es ausreiche, Niedrigverdiener in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Die wären dann geschützt, der Rest käme auch mit privaten Versicherungen, Ersparnissen und Immobilien klar. – Mag sein, aber im Rentensystem geht es nicht nur um individuelle Fragen. Dort werden derzeit abhängig Erwerbstätige jeder Einkommensklasse einbezogen, um das System vor dem Ausbluten zu bewahren. Und auch deshalb ist Selbstständigkeit (anders als ein Beruf) ein Status und damit nichts, was frei wählbar ist, sondern schlicht abhängig davon, ob insgesamt eine unternehmerische Unabhängigkeit vorliegt.


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