Der Gesetzgeber bleibt gefordert

Weil heute immer eine Gesamtschau im Einzelfall vorgenommen wird, werden auch alle Einschätzungen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und die Urteile der Sozial- und Arbeitsgerichte – je nach Interessenlage – fast immer auf Unverständnis der unterlegenen Seite stoßen müssen. Es gibt eben keine gesetzliche Definition der Selbstständigkeit im deutschen Recht und in Sachen Scheinselbstständigkeit nicht einmal nachvollziehbare gesetzliche Kriterien. Im Koalitionsvertrag vom März 2018 wurde das Problem bei der Prüfung der Scheinselbstständigkeit zumindest angesprochen, dem folgte aber bislang keine gesetzliche Initiative, sondern lediglich Mitte 2019 der Vorschlag, den Status in Zukunft bereits vor Aufnahme einer Tätigkeit einschätzen zu können, der zum 1.4.2022 (neben weiteren kleineren Änderungen) als Gesetz in Kraft trat.

Solange es keine nachvollziehbaren gesetzlichen Vorgaben gibt, wird das Bundessozialgericht (BSG) weiterhin durchaus umstrittene Einzelfall-Urteile fällen. Etwa solche wie das vom 14. März 2018 (Az: B 12 R 3/17 R): Hier entschied das Bundessozialgericht, dass Dozentinnen und Lehrer selbst dann freiberuflich sein können, wenn ihnen ein Lehrplan den Unterrichtsstoff genau vorschreibt. Dies sei – wie die Pflicht, die Räume der Schule zu nutzen – nur eine Rahmenvorgabe und die wiederum nur eines von vielen Indizien. Entscheidend sei, dass die Gesamtschau ergebe, dass eine selbstständige Tätigkeit vereinbart und gelebt wurde. In der Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung entschied das selbe Gericht dann im Juni 2022 im sogenannten Herrenberg-Urteil (Az. B 12 R 3/20 R), dass eine unterrichtende Tätigkeit (in der notwendigen Gesamtschau) erst dann selbstständig ist, "wenn bei der Dienstleistung eine Weisungsfreiheit vorhanden ist, die sie insgesamt als eine unternehmerische kennzeichnet". Es müssen also auch in dieser Tätigkeit unternehmerische Chancen und Risiken existieren, damit die Selbstständigkeit gegeben ist. Dies Kriterium war absolut nicht neu, neu allerdings wird es nun auch in der Bildung stärker gewertet. Gegen eine Selbstständigkeit spricht nun auch dort, so das Urteil, wenn die Schule nicht als Vermittler der Selbstständigen auftritt, sondern dieser eine persönliche Arbeitsleistung geschuldet wird, sie Unterrichtszeiten und Räume festlegt sind und dann auch noch die Verträge und Abrechnungen mit den Endkunden übernimmt.

Da die (gerichtliche) Beurteilung im Einzelfall sozialrechtlich und arbeitsrechtlich sehr mühsam sein kann, wurde und wird immer wieder gefordert, mit klaren gesetzlichen Kriterien Rechtssicherheit für alle Vertragsparteien schaffen. – Das Arbeits- und Sozialministerium hatte eine solche Klarstellung ursprünglich für den Herbst 2015 angekündigt und einen ersten Gesetzentwurf vorgelegt. Der wurde im Frühjahr 2016 jedoch durch einen sehr abgeschwächten Gesetzentwurf der Regierung ersetzt, der im Oktober 2016 vom Bundestag verabschiedet wurde und am 1. April 2017 in Kraft trat. Anders als geplant und in den Entwürfen vorgesehen, gibt es nun gesetzlich lediglich eine grobe Zusammenfassung der zentralen Aussagen der (ohnehin) laufenden Rechtsprechung. Der neue § 611a BGB - Arbeitsvertrag ist nach Meinung aller Fachmenschen mindestens überflüssig, vielleicht sogar schädlich und lautet im Kern: "Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen."

Auf die Frage "Warum enthält der neue § 611a BGB im Vergleich zum ersten Entwurf nur noch eine allgemeine Definition anstelle der konkreten Kriterien zur Abgrenzung von abhängiger und selbstständiger Tätigkeit?", gestellt in einer Kleinen Anfrage vom September 2016 gab die Regierung keine sachliche Antwort. Der ursprüngliche Text, auf den sich die Anfrage der Bundestags-Grünen bezog, ist aber eine nähere Betrachtung wert, denn: Ohne gesetzliche Kriterien zur Scheinselbstständigkeit kann es keine befriedigende Lösung geben, zu einer schnellen, einfachen und rechtssicheren Statusbestimmung zu kommen. – Im sofort gekippten ersten Referentenentwurf zum § 611a BGB vom 16.11.2015 gab es acht Kriterien, die durchaus tauglich sind, die Probleme der Statusbestimmung zumindest zu mildern. Geplant war, die Kriterien wie folgt aufzustellen:

Für die Feststellung, ob jemand in eine fremde Arbeitsorganisation eingegliedert ist und Weisungen unterliegt, ist eine wertende Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Für diese Gesamtbetrachtung ist insbesondere maßgeblich, ob jemand

  1. nicht frei darin ist, seine Arbeitszeit oder die geschuldete Leistung zu gestalten oder seinen Arbeitsort zu bestimmen,
  2. die geschuldete Leistung überwiegend in Räumen eines anderen erbringt,
  3. zur Erbringung der geschuldeten Leistung regelmäßig Mittel eines anderen nutzt,
  4. die geschuldete Leistung in Zusammenarbeit mit Personen erbringt, die von einem anderen eingesetzt oder beauftragt sind,
  5. ausschließlich oder überwiegend für einen anderen tätig ist,
  6. keine eigene betriebliche Organisation unterhält, um die geschuldete Leistung zu erbringen,
  7. Leistungen erbringt, die nicht auf die Herstellung oder Erreichung eines bestimmten Arbeitsergebnisses oder eines bestimmten Arbeitserfolges gerichtet sind,
  8. für das Ergebnis seiner Tätigkeit keine Gewähr leistet.

Im nie umgesetzten Referentenentwurf sind diese Kriterien ab Seite 9 genannt (und ab Seite 29 ausführlicher erläutert). Zusätzlich enthielt der Entwurf die schlaue Vorgabe, dass eine sozialrechtliche Scheinselbstständigkeit widerleglich arbeitsrechtliche Folgen hat. Besonders nützlich wäre die Umsetzung des Entwurfs daher auch deshalb gewesen, weil er vorsah, Sozial- und Arbeitsrecht ein wenig zu synchronisieren und damit ein weiteres Stück Rechtssicherheit zu schaffen. Zwar sollte es weiterhin möglich sein, dass der Status im Sozialrecht und im Arbeitsrecht auseinanderklaffen, aber grundsätzlich sollte gelten: "Das Bestehen eines Arbeitsvertrages wird widerleglich vermutet, wenn die Deutsche Rentenversicherung ... das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses festgestellt hat."